Leserbrief zum Artikel von Jan-Martin Wiarda: "Abgeschreckt", DIE ZEIT vom 24. Mai 2012, www.zeit.de/2012/22/C-Ingenieurstudenten
Stuttgart, 1. Juni 2012
Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion,
die undifferenzierte Darstellung Ihres Autors irritiert mich. Anstatt die Ingenieurstudierenden als unfähig darzustellen, ihr Studium zu meistern, sollten Sie sich lieber Gedanken darüber machen, worin die grundlegenden Ursachen liegen könnten. Nämlich meiner Meinung nach auch in der negativen Darstellung in den Medien.
Ihr Autor entlarvt sich selbst, wenn er schreibt: "Vielleicht hilft nur noch Druck von außen (...) indem man öffentlichkeitswirksam die (...) positiven Beispiele lobt."
Über die hätten wir nun wirklich gerne mehr erfahren!
Stattdessen hat der Artikel zum Großteil einen negativen Tenor. Für die geforderten positiven Beispiele bleibt nicht mehr als ein Nebensatz. Oder ein halbherziges Lob einzelner Professoren, die sehen würden "dass das Ingenieurstudium (...) sogar mehr Betreuung als andere Studiengänge erfordert."
Wen soll das motivieren? Unsere Schulabgängerinnen und Schulabgänger sicher nicht!
Aber um unseren Wirtschaftsstandort zu sichern, brauchen wir dringend Nachwuchs - allein schon durch den demografischen Wandel und die absehbare Pensionierungswelle in den Ingenieurberufen.
Als Präsident der Ingenieurkammer Baden-Württemberg und als Inhaber mehrerer Büros weiß ich, wie groß dieses Problem ist. Als Kammer hören wir täglich, dass unsere Mitgliedsbüros große Schwierigkeiten haben, freie Stellen durch geeignete Ingenieure zu besetzen.
Aber im Gegensatz zu Ihrem Autor jammern wir eben nicht, sondern tun etwas! Wir engagieren uns zum Beispiel dafür, schon Kinder und Jugendliche für MINT-Fächer zu begeistern. Mit Erfolg: Unser länderübergreifender Schülerwettbewerb hat Teilnehmerrekorde, allein in diesem Jahr machten 2.675 Schülerinnen und Schüler mit. Und die leuchtenden Augen bei den Preisverleihungen sprechen für sich.
Natürlich ist uns auch ein großes Anliegen, die von Ihrem Autor angesprochene Abbrecherquote in den Ingenieurfächern zu bekämpfen. Dafür stehen wir in engem Kontakt mit den Hochschulen und Universitäten im Land. Unter anderem haben wir ein Patenprogramm bei den Bau-Studiengängen ins Leben gerufen. Es bietet studienrelevante Arbeitsplätze in Ingenieurbüros bei gleichzeitiger Begleitung der Studierenden durch Mentoren (=Paten) aus der Praxis.
Mich enttäuscht, dass Ihr Autor hauptsächlich Ängste und Vorbehalte schürt, statt dass er ordentlich recherchiert und die Möglichkeiten aufzeigt, die es bereits gibt. Die Hochschulen und Unis, zumindest hier in Baden-Württemberg, bieten doch schon Lösungen an. Hier nur beispielhaft genannt seien das "MINT-College" der Universität Stuttgart und das Programm "plus1-Studium" der Hochschule für Technik Stuttgart!
Warum berichten Sie nicht darüber?
Mein trauriges Fazit: Ihr Artikel gibt ein fatales Signal ab gegenüber Jugendlichen, die den Ingenieurberuf ergreifen möchten. Doch gerade diese müssen wir ermuntern!
Mit freundlichen Grüßen,
Dipl.-Ing. Rainer Wulle
Präsident Ingenieurkammer Baden-Württemberg