Leerstand oder Notstand? Es diskutieren (v.li.) Dr. Hans-Ulrich Rülke (FDP), Johannes Stober (SPD), Jochen Bayer (Bayer Baustoffwerke), Moderator Thomas Durchdenwald (Stuttgarter Zeitung), Andrea Lindlohr (Bündnis 90/Die Grünen), Rolf Gaßmann (Deutscher Mieterbund Baden-Württemberg), Tobias Wald (CDU). Foto: Bulgrin
STUTTGART. In den Ballungszentren Baden-Württembergs herrscht bereits jetzt Mangel an Wohnraum und in den anderen Regionen passen die Wohnungen selten zu den Bedürfnissen der Bürger: sie sind zu klein, nicht seniorengerecht und erfüllen nicht die modernen energetischen Standards. Dem wird häufig entgegnet, dass die demografische Entwicklung das Problem ganz von allein lösen würde. „Leerstand oder Notstand?“ war deshalb die Frage, über die am 27. Februar 2013 Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Stuttgart diskutierten. Veranstalter war die Aktionsgemeinschaft Impulse für den Wohnungsbau in Baden-Württemberg, ein breites Bündnis von Vertretern der Bau- und Immobilienwirtschaft, von Kammern, Arbeitnehmern und Mietern aus Baden-Württemberg.
Fest steht, dass trotz der Geburtenrückgänge noch Wohnraumbedarf besteht. Baden-Württemberg ist weiterhin Zuzugsland und die Zahl der Haushalte wird wei¬ter steigen. Auch die gestiegenen Anforderungen an Barrierefreiheit und Energieeffizienz sorgten weiterhin für Baubedarf im Land, wie Professor Michael Voigtländer vom Institut für Wirtschaft in Köln in seinem Vortrag deutlich machte.
Tatsächlich sind im Jahr 2012 13 Prozent mehr Aufträge im Wohnungsbau erteilt worden als im Vorjahr und in 2011 stieg die Anzahl der fertig gestellten Woh¬nungen nach jahrelangem Rückgang erstmals wieder an. Die Wende zum Guten? Jochen Bayer, Sprecher der Aktionsgemeinschaft Impulse für den Wohnungsbau, dämpft die Euphorie. Die Zahlen müsse man sich genau ansehen. So wurden zwar im Jahr 2011 mehr Wohnungen fertiggestellt, aber mit Ausnahme des historischen Tiefpunkts im Jahr 2010 waren dies immer noch die wenigsten Fertigstellungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Und auch die Steigerungen bei der Baunachfrage starteten auf sehr niedrigem Niveau und seien in absoluten Zahlen gering.
Auch sei es interessant, wer für wen baue. So finde derzeit aufgrund der Eurokrise eine Flucht ins „Betongold“ statt. Investoren bauten für Anleger und Privatpersonen mit mittleren bis hohen Einkommen, was Bayer mit der Formel „reich baut für reich“ beschreibt.
Vor allem junge Familien, Senioren und gering verdienende Menschen sind von Wohnungsmangel betroffen – eine soziale Schieflage, die inzwischen auch die Politik erkennt. Kein Wahlkampf im Superwahljahr kommt an diesem Thema vorbei. Das Pestel-Institut Hannover hat errechnet, dass in fünf Jahren bundesweit 400.000 Mietwohnungen fehlen werden, wenn der Mietwohnungsbau nicht verdoppelt wird. Allein in Stuttgart haben 46.930 Haushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung.
Deshalb sind weitere Impulse für den Wohnungsbau nötig. Die Aktionsgemeinschaft Impulse für den Wohnungsbau hat ihre Forderungen in ihrem aktuellen Positions-papier zusammengefasst. Sie plädiert für ein von derzeit gut 70 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro aufgestocktes landeseigenes Förderprogramm und für verbes-serte Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen – auch für den altersgerechten und energieeffizienten Neubau.
Über die Möglichkeiten, diese Impulse zu setzen, diskutierten Jochen Bayer und der Landesvorsitzende des Mieterbundes, Rolf Gaßmann, mit Vertretern der vier Landtagsfraktionen Baden-Württembergs. Über den Sinn der gestiegenen Fördersumme war das Podium geteilter Meinung. Dr. Hans-Ulrich Rülke, Fraktionsvorsitzender der FDP, sieht Subventionen grundsätzlich kritisch, man müsse stattdessen ein passgenaues Programm für die betroffenen Regionen auflegen. Die degressive Abschreibung für Investitionen sei da zielführender. Dass die Fördermittel bisher nicht vollständig abgeflossen seien, bedauerte auch Johannes Stober, neuer wohnungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, und versprach, dass das Förderprogramm umgestaltet werde.
Gaßmann sah durchaus Bedarf an einer Aufstockung der Förderung auf 100 Millionen Euro. In Bayern werde diese Summe abgerufen, „es geht also“ betonte er. Pro Jahr gingen 5000 Sozialwohnungen verloren, denen jährlich lediglich neue 250 Sozialwohnungen gegenüber stünden. Der wohnungspolitische Sprecher der CDU, Tobias Wald, sah in der Aufstockung des Förderprogramms durch die grün-rote Landesregierung einen Schritt in die richtige Richtung, bedauerte jedoch, dass sie teilweise ausgerechnet durch die erhöhte Grunderwerbssteuer „querfinanziert“ sei.
Angesichts des geringen Anteils der geförderten Wohnungen am Gesamtbedarf, so waren sich alle Diskutanten einig, müsse zum großen Teil der freie Wohnungsmarkt den Wohnraummangel beheben. Andrea Lindlohr, wirtschafts- und wohnungsbaupolitische Sprecherin von der Grünen-Landtagsfraktion, rechnete vor, dass mit dem Wohnungsbau-Programm 4.400 geförderte Wohneinheiten gebaut werden könnten. Selbst bei einer Fördersumme von 100 Millionen Euro wären es immer noch deutlich weniger als die benötigten 10.000. Alle Podiumsteilnehmer hielten deswegen verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für eine bedenkenswerte Alternative – sofern sie in den Ballungszentren und Universitätsstädten greife und Mitnahmeeffekte vermieden werden. Bayer rechnete vor, dass es sich bei der degressiven Abschreibung um kein Steuergeschenk handele. Durch den zusätzlichen Wohnungsbau flössen beträchtliche Steuern und Abgaben an die öffentlichen Haushalte zurück.
Die Aktion Impulse für den Wohnungsbau ist ein breites Bündnis von Vertretern der Bau- und Immobilienwirtschaft, Arbeitnehmern und Mietern aus Baden-Württemberg. Gemeinsames Ziel ist es, für bessere politische Rahmenbedingungen im Wohnungsbau zu werben.
Hier das aktuelle Positionspapier für den Wohnungsbau in Baden-Württemberg als pdf.